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Vorbilderbildbuch
Kleine Galerie der Menschlichkeit
240 Seiten
· gebunden · mit Lesebändchen · 9,90 €
Umschlag: Ilse Straeter
ISBN
978-3-942094-95-5
Wir
sind aus dem Ruhrgebiet, wir sind altmodisch, wir haben Vorbilder. Sie
bedeuten uns sehr viel. Denn wer keine Vorbilder mehr nötig zu haben
glaubt, der hat sich aufgegeben und ist auf dem Weg in die Barbarei. So
ist dieses Buch der Vorbilder auch eine kleine Galerie der
Menschlichkeit.
Über Vorbilder schreiben in diesem Buch:
Michael Zabka · Joachim Wittkowski · Werner Streletz · Ulrich Straeter
· Ilse Straeter · Siegfried Stajkowski · Annika Schuppelius · Einhard
Schmidt-Kallert · René Schiering · Thomas Rother · Zepp Oberpichler ·
Sarah Micke · Margret Martin · Herr Luca · Susi Lilienfeldt · Margit
Kruse · Klaus D. Krause · Anke Klapsing-Reich · Hubertus A.
Janssen · Sabine Herrmann · Gerd Herholz · Markus Günther · Jens E.
Gelbhaar · Ulrike Geffert · Udo Feist · Jens Dirksen · Ludger Claßen ·
Monika Buschey · Karin Bucconi · Peter Bothe · Werner Bergmann · Werner
Boschmann ·
Hermann Beckfeld
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Michael Zabka
Jahrgang 1963. Abitur in Gladbeck, Studium der
Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Pädagogik in Essen. Nach
dem Volontariat im Ruhrgebiet Redakteur und Redaktionsleiter bei
Tageszeitungen in Baden-Württemberg und Niedersachsen. Seit 2014
Redakteur im Referat „Öffentlichkeitsarbeit“ des Landtags
Nordrhein-Westfalen. 2018 erschien sein Roman „Da blubbern die Hormone – Groß werden im Ruhrgebiet der 70er Jahre“. |
Wer brauchen ohne „zu“ gebraucht
Fritz Weber war der Vater meiner Mutter, ein großer, schmaler Mann, der
„Eckstein“ aus der grünen Schachtel rauchte und dem nie ein böses Wort
über die Lippen kam. Im Winter saßen wir oft zusammen in der kleinen
Wohnküche, ganz nah am Kohleofen, während Oma Lydia am Herd stand und
Reibekuchen backte. Opa las mir „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch vor,
er rezitierte Schillers „Glocke“, Goethes „Erlkönig“ und die Gedichte
Heinz Erhardts, wobei ich das Gefühl hatte, dass er an Heinz Erhardt
noch mehr Spaß hatte als ich. Opa Weber liebte das Spiel mit der
Sprache. ...
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Joachim Wittkowski
unterrichtet am Städtischen Gymnasium Selm die Fächer Deutsch,
Philosophie, Katholische Religion und Literatur; ist Fachleiter am
Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Hamm und Lehrbeauftragter
am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum.
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Von Denkern und Lenkern
... Es ist eben dieser unbeugsame Einsatz für die Kumpels und ihre
Familien, es sind Gerechtigkeitssinn und Sprachmächtigkeit, die Georg
Werner, Ludwig Kessing und Heinrich Kämpchen zu „Denkern und Lenkern“
in der Geschichte der Bergbaus und darüber hinaus des Ruhrgebiets
gemacht haben.
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Werner Streletz
geboren 1949 in Bottrop, lebt und arbeitet in Bochum; Schriftsteller
und Kulturjournalist; Mitglied im PEN-Club; veröffentlicht Lyrik,
Prosa, Hörspiele, Theaterstücke; zuletzt erschienen der Roman „Rückkehr
eines Lokalreporters“ (2016) und die Erzählung „Die Route des Raben –
Eine Begegnung mit Edgar Allan Poe“ (2018); mehrfach ausgezeichnet,
unter anderem mit dem Literaturpreis Ruhr für das Gesamtwerk.
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Blankenburg
... Der zweite, ein hochgewachsener Jugendlicher, Martin Blankenburg
mit Namen, wie ich alsbald erfuhr, konnte den Mainstream-Beats wenig
abgewinnen, sondern brachte Songs ins Spiel, die aus der Soul- oder
Rhythm & Blues- Ecke stammten und eher in den USA erfolgreich waren
als in der Bottroper Diskothek „Piccadilly“. Zum Teil sang uns
Blankenburg Strophen aus seinem uns wenig bekannten Repertoire der
Raritäten vor, wir anderen hörten respektvoll zu. Ich wüsste von
niemandem, der sich über diese spontanen Freilicht-Auftritte lustig
gemacht hätte. ...
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Ulrich Straeter
geboren am 26. Juli 1941 in Dortmund, lebt und arbeitet seit 1968 in
Essen. Diplom-Finanzwirt, Verleger, Schriftsteller. Mitglied in ver.di
und im Verband deutscher Schriftsteller, Mitglied der Europäischen
Autorenvereinigung DIE KOGGE, Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland
(Freundes- und Förderkreis). Veröffentlichungen zuletzt: „In jenem ach
so heißen Sommer“, in: „Ruhrgebietchen. Was deine Kinder an dir lieben
und was nicht“ (2018). „Sauerland Impressionen“, Texte Ulrich Straeter,
Bilder Ilse Straeter (2018). „Die Droste im Tal“, in: Gödden,
Walter/Maxwill, Arnold (Hg.): Literatur in Westfalen (2014). „Grüne
Minna“, Kriminalroman (2010). Verleihung des Rheinlandtalers (2002).
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Eine andere Welt ist möglich – hier: Antonio Gramsci
... Gramsci trat 1913 der Sozialistischen Partei bei, brach 1915 sein
Studium ab, arbeitete dann als Journalist und widmete sich der Politik.
Ein Zusammenschluss der Sozialistischen mit der Kommunistischen Partei
Italiens, den er anstrebte, gelang nicht. Er gehörte zu den Begründern
und zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Italiens, deren
Generalsekretär er von 1924 bis 1927 war. Von 1924 bis zu seiner
Verhaftung durch die Faschisten trotz Immunität im November 1926 war er
Abgeordneter des italienischen Parlaments.
Während seiner Zeit im Gefängnis verfasste er Texte mit
philosophischen, soziologischen und politischen Überlegungen, die
sogenannten „Gefängnishefte“. Sie bilden ein bedeutendes Werk
marxistischen Denkens und sind das Vermächtnis, das uns dieser Autor
und politische Akteur hinterlassen hat. ...
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Siegfried Stajkowski
geboren im Ruhrgebiet, nur selten rausgekommen aus dem Ruhrgebiet, lebt immer noch im Ruhrgebiet.
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Prof. Carlo Kreuzer oder: Der Lügenbaron aus Bochum
Eigentlich hieß der Professor Karl Josef Kreuzer. Doch in den
Vorlesungen stellte er sich als Carlo Kreuzer vor, der in der
Vergangenheit auch einmal gerne gegen den Fußball getreten hat.
Spannend waren seine Vorlesungen – die echte Lesungen waren. Die
Unibude war immer rappelvoll. Einmal stand plötzlich eine junge Dame
auf und fragte ganz belanglos, wer denn mal für sie einen Tampon habe.
Peinliche Betroffenheit war in der gesamten Bude zu spüren. Carlo
Kreuzer unterbrach seine Vorlesung und griff die Frage nach dem Tampon
auf. ...
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Annika Schuppelius
ist ein Kind des Ruhrgebiets, geboren und aufgewachsen im Duisburger
Norden. Wohnt neben dem wahrhaftigen Orgelmann, der sie zu dieser
Geschichte inspirierte.
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Erdbeereis auf Lebenszeit
... Der kleine blonde Herbert saß immer so nah wie möglich an der
Nachbarswand, um dem geheimnisvollen Mann zu lauschen. „Der Orgelmann“,
so nannte der Zehnjährige den alten Herrn von nebenan. Denn wer der
war, das wusste er nicht so genau. Immer gegen Nachmittag schmiss er
seine Orgel an und gab ein neues Lied zum Besten. Es war der Höhepunkt
des Tages für den kleinen Herbert.
Sein Bruder Dietrich, vier Jahre älter, fand das alles weniger
spannend. Musik war eben nicht so seins. Herbert jedoch war hin und weg
von den Melodien, die der Alte dudelte, denn auch er selbst machte
gerne Musik, ganz zum Missfallen seines Vaters Wilhelm. Früh übte er
sich an einem Miniatur-Spielzeugklavier, das er von Mutter Hella
geschenkt bekommen hatte, und begann, eigene Melodien auszuprobieren.
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Einhard Schmidt-Kallert
Jahrgang 1949. Sozialgeograph und Raumplaner; war Entwicklungshelfer in
Südostasien, von 1986 bis 1988 Gastdozent in Ghana und danach mit
unterschiedlichen Aufgaben in Auslandseinsätzen in Afrika, Asien und
Lateinamerika; von 2005 bis 2014 war er Professor für Raumplanung in
Entwicklungsländern an der TU Dortmund. Zahlreiche wissenschaftliche
und journalistische Veröffentlichungen, unter anderem Reisereportagen.
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Father Merten – der Missionar und die Fetischpriester
Die Regenzeit war rechtzeitig gekommen in diesem Jahr. Viele einsame
Bauernhäuser im Busch waren kaum erreichbar. Mit Glück konnten die
Bewohner sich barfuß auf schlammigen Wegen zum nächsten Markt
durchschlagen.
Ich sitze an diesem tropischen Abend auf den Afram Plains mit Father
Alfons Merten in seinem roten Suzuki, dem man die jahrelangen Fahrten
auf Schlaglochpisten ansieht. Auch das Vierradgetriebe funktioniert
nicht mehr. Mit Geschick umkurvt der Missionar die zahlreichen
Schlaglöcher auf der Lateritpiste, die nach dem Regen voller Wasser
stehen. Bald ist der Ortsrand von Donkorkrom, dem Hauptort der Afram
Plains, erreicht. ...
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René Schiering
(geboren am 27. August 1977) wuchs jenseits einer Künstlerszene in
Gladbeck, Westfalen, auf. Seine Faszination für Film und Fernsehen
führte ihn 1997 zum Studium nach Köln. Studienbegleitend sammelte er
erste Erfahrungen in der Medienbranche. Nach Promotion 2006 und
anschließender sprachwissenschaftlicher Arbeit heuerte er 2011 als
Autor beim Fernsehen an. Seitdem schreibt er für Formate wie
„Privatdetektive im Einsatz“, „Berlin Tag und Nacht“ und „Krass
Schule“. 2011 debütierte er mit „Ruhrpott-Köter“ als Romanautor. Im
Moment macht er mit der Formation Ramblin’ René & The Stetson Five
Countrymusik.
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Was würde Schlingensief jetzt tun?
In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren hat man nicht gerade nach
Vorbildern Ausschau gehalten. Axl Rose trug auf der „Use Your
Illusion“-Tour (1991 – 1993) gerne ein T-Shirt, auf dem Jesus am Kreuz
abgebildet war. Darunter prangte der Schriftzug: „Kill Your Idols!“
Entsprechend fällt es mir schwer, auf Anhieb ein „mustergültiges
Beispiel“ zu nennen, an dem ich mich in meinem Leben orientiert hätte.
Aber es gibt da doch jemanden, zu dem ich immer wieder herübergeschielt
habe, weil seine Biographie zufällige Parallelen mit meiner aufweist
und weil mir seine Taten imponiert haben. Dieser Jemand kommt aus dem
Ruhrgebiet. Dieser Jemand ist von hier aus in die große weite Welt
ausgezogen. Dieser Jemand ist: Christoph M. Schlingensief (geboren am
24.10.1960; gestorben am 21.08.2010). ...
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Thomas Rother
betreibt mit Christa Rother auf dem Welterbe Zollverein Essen den
„Kunstschacht Zollverein“: Atelier, Museum, Wohnstätte, Tagungsraum. Im
Buch „Grubengold“ Delia Bösch: „… ein archaisches, schwer romantisches
Wunderkabinett und zugleich der einzige Ort im ganzen Ruhrgebiet, wo
sich Kunst und Kohle auf derart atemberaubende Weise gefunden haben.“
Susanne Kippenberger im Tagespiegel Berlin: „Rother ist ein Zauberer:
Er macht aus Vergangenheit Gegenwart, aus Industrie Kunst und aus Kunst
Leben, aus Altem macht er Neues.“
Thomas Rother, 1937 in Frankfurt (Oder) geboren, lebt seit 1955 in
Essen. Maurerlehre, Studium, WAZ-Redakteur, Schriftsteller, bildender
Künstler. Vor der Stilllegung zog Rother 1985 nach Zollverein. Prof.
Dr. Karl Ganser: „Sie waren schon lange vor der IBA da und haben
Saatkörner gestreut, ohne die die IBA nicht gedeihen hätte können.“
Auszeichnungen für literarische und bildnerische Arbeit, zuletzt
„Ehrenpreis des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg“ 2017 für
das Lebenswerk.
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Ein zweites Künstlerleben · Werner Graeff und das Bauhaus
... Werner Graeff, von dem viele Kunsthistoriker sagen, er sei der
letzte Bauhauskünstler gewesen, war Experimentator seit dem Eintritt
ins Bauhaus, er ist es bis zum Tode geblieben. Die Jugendlichkeit und
seine Treue zum künstlerischen Weg zeichnen ihn als Künstler aus, aber
auch als einen ungemein beredten Zeitzeugen der internationalen
Kunstgeschichte. Sein schriftstellerischer Nachlass, erst 2010
erschienen, gibt erstaunliche Einblicke in die Welt der Bauhäusler, die
weltweit auf die Kunst- und Geschmacksbildung bis in die Gegenwart
einen außerordentlichen Einfluss ausübten – Logik und poetische
Intentionen, Konstruktion und Musikalität von Farben und Formen.
Doch erst mit dem Begriff „Folkwangschule“ lässt sich das bewegte Leben
dieses Künstlers erahnen, in dem Früheres im Gegenwärtigen
weiterwirkte. ...
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Zepp Oberpichler
Musiker, Autor, Ruhrpottkind. Mehr als 25 Tonträger, über 200 eigene
Songs und weit über 600 Konzerte. Morgens um fünf Uhr schreibt er
Bücher, um sechs treibt er Sport, um halb sieben geht er eine Runde mit
dem Hund und um acht sitzt er in den Räumen seiner PR-Agentur Durian in
Duisburg. Seine Bücher haben immer was mit dem Ruhrgebiet und meist was
mit Rock and Roll zu tun: „Chuck Berry over Bissingheim“ (2017),
„Galgenvögel liegen tiefer“ (2016), „Grubenkind“ (2015 mit Jürgen
Post), „Heartzland“ (2012 mit Jürgen Kassel), „Gitarrenblut“ (2009),
„Die Stones sind wir selber“ (2002 mit Tom Tonk); außerdem zahlreiche
Beiträge in Anthologien und für Zeitschriften. [www.oberpichler.de]
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Der Windmühlenmann
... Aber streng genommen, so bei Lichte betrachtet, da bleibt für mich
nur einer: Pete Townshend. Der Gitarrist von The Who, der besten Band
des Planeten.
Pete Townshend trat recht früh in mein Leben. Ich war gerade zehn oder
elf, da hat Onkel Willi, ja, der aus dem Schrebergarten, mir das
Doppelalbum „Tommy“ vermacht. Eine Glanztat! Ich verliebte mich in das
Cover mit seinen Aufklappseiten, verliebte mich in die Idee der
Rockoper, verliebte mich in die Musik. Die Band selbst kannte ich
allerdings schon. Meine Mutter war seinerzeit im Bertelsmann Music
Club. Daher bekam sie immer irgendwelche Platten zugeschickt. Aus
früherer Zeit besaß sie noch eine Single mit vier Songs: Drafi
Deutscher And His Magics – „Marmor, Stein und Eisen bricht“; Caterina
Valente – „Kismet“; Pierre Brice – „Wunderschön“ und ja, The Who mit
„My Generation“. Cooler Mix, wie ich heute noch finde. Aber hatten die
anderen Songs eine Chance gegen „My Generation“? Nie! ...
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Sarah Micke
ist Germanistin und Kommunikationswissenschaftlerin. Sie lebt mit ihrer
kleinen Familie in ihrer Heimatstadt Essen und arbeitet als Redakteurin
in Duisburg. Gesundheitsthemen sind ihr größtes Faible.
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Ein Superheld für Erwin
Da lag er tatsächlich. Fahl im Gesicht, schlafend, nur flach atmend.
Ich erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Sofort merkte ich, wie
sich alles in mir zusammenzog und ich von jetzt auf gleich
bewegungsunfähig war. Es musste ein interessanter Anblick sein, wie ich
inmitten der beiden Krankenbetten stand. Denn als ich den Kopf zur
Seite wandte, sah mich der Patient im Nachbarbett mit leicht geöffnetem
Mund und aufgerissenen Augen an. „Alles in Ordnung, Schwester?“,
erkundigte er sich ernsthaft besorgt. Ich nickte. Dann war ich
ungewöhnlich schnell zur Tür hinaus auf dem Flur. Ich holte erst einmal
tief Luft, als hätte ich das minutenlang versäumt. Mir dämmerte, dass
sie ihn meinten, als ich vorhin ein Gespräch meiner Kolleginnen im
Vorbeigehen aufschnappte: „Wir hatten lange keinen Prominenten mehr auf
der Station.“ – „Ja, stimmt. Komisch, dass er kein Einzelzimmer mit
Chefarztbehandlung bekommt.“ ...
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Margret Martin
ist Bochumerin: wegen Geburt, Wohnort der Mutter, Studium; ist
Essenerin: wegen Kindheit und Jugend bei den Großeltern, Studenten-WG;
ist Dortmunderin: wegen Wohnort von Vater und Bruder; ist Duisburgerin:
wegen erster Arbeitsstelle in Marxloh; ist Bottroperin: wegen Liebe,
Familie, Lebensmittelpunkt, Arbeitsplatz. Das Wichtigste in Kürze über
die „Blonde aussem Pott“: Erfüllung: Familie und Beruf; Leidenschaft:
Freunde treffen und kochen; Begeisterung: Lesen und Schreiben; Lust:
Wandern und Fahrrad fahren; Freude: Malen und Ehrenamt.
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Eigentlich waren es drei
Mein Name ist Margret Martin. Ich war Lehrerin. Einunddreißig Jahre
lang. Und ich habe meinen Beruf sehr geliebt. Wie es dazu kam? Nun, ich
wurde Ostern 1958 in Essen-Haarzopf eingeschult. Die Grundschule, es
handelte sich dabei um zwei ältliche, wenig imposante, den Schulhof
begrenzende Gebäude, hieß damals noch Volksschule. Ich kann mich nicht
erinnern, ob die erste Unterrichtsstunde meines Lebens um acht oder um
neun Uhr begann, auch habe ich vergessen, ob es zuvor, wie heutzutage
üblich, einen Gottesdienst gab. Aber es gab Frau Schroer, ungefähr
fünfundzwanzig MitschülerInnen, meine Schiefertafel vor mir auf dem
Tisch, an dem ich auf einer Bank gemeinsam mit einem anderen Mädchen
ein wenig eingeklemmt saß, und es gab – so meine Erinnerung – nicht
viel mehr zu tun, als Tafel, Schwamm und Wischlappen mal aus- und mal
wieder einzupacken. ...
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Herr Luca
ist Journalist und Pressesprecher, wurde 1964 geboren, wuchs in
Wattenscheid auf und lebt nach Stationen in Brüssel, Speyer,
Düsseldorf, Frankfurt und Kassel seit mehreren Jahren wieder im
Ruhrgebiet, in Mülheim. 2018 erschien sein erstes Buch „80 Tage auf der
Welt“, in dem er den Tod seines Sohnes Luca zum Anlass nimmt, um auf
heiter-besinnliche Art über die Welt und das Leben nachzudenken.
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Ruhender Pol
Als wir uns 2001 das erste Mal trafen, ahnte ich nicht, was aus uns
werden würde. Wie er mich verändert. Ich konnte nicht wissen, dass ich
einem Engel begegnet war.
Geärgert hatte ich mich – und zwar so richtig. Über meinen Chef. Über
meine Mutter. Aggressiv war mein zweiter Vorname. Und meine Frau hatte
ich auch gerade verlassen. So ein Mist, ein verdammter. Hat sich so
ergeben. Quatsch. Ich hatte es so gewollt. Denn ich war am Ende – mit
unserer Beziehung und überhaupt. ...
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Susi Lilienfeldt
Diplom-Designerin aus Dortmund, 1967 in Hagen geboren, hat drei wunderbare Kinder. [www.lilienfeldt-design.de]
„Wir wollen lieber fliegen als kriechen.“
Louise Otto-Peters (1819 – 1895), Frauenrechtlerin.
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Surviving Kindertransportees
„Es wäre eine solche Verschwendung, ein kleines Mädchen zu retten, das
als Frau ihr Leben verplempert, indem sie shoppen geht und über das
Mittelmeer segelt.“
Dame Stephanie Shirley
Wenn man den Namen Steve im Zusammenhang mit der IT-Branche hört,
denken viele erst mal an Steve Jobs, aber es gibt auch eine weibliche
Steve, die eine Pionierin für Frauen in der IT-Branche war. Stephanie
Shirley gab sich einen Männernamen, um als Unternehmerin in der
männerdominierten Geschäftswelt der sechziger Jahre ernst genommen zu
werden. Auch heute noch wird sie von vielen Steve genannt. ...
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Margit Kruse
wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch
ihre Revier-Krimis „Eisaugen“, „Zechenbrand“, „Hochzeitsglocken“ und
„Rosensalz“. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die
Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben zahlreichen
Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zwölf Bücher veröffentlicht,
darunter einen Roman, der für den Literaturpreis Ruhr 2009 nominiert
war. Labrador Enja ist stets dabei, wenn Margit Kruse sich auf
Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes
hat es der Autorin angetan. Sie ist Mitglied im Verband deutscher
Schriftsteller.
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Der tolle Dieter, ein Ruhrpott-Cartouche
Dieter kam mit einem Freund im Schlepptau herein. Er ignorierte uns,
die wir in der Pause schon im Näh- und Handarbeitsraum saßen und uns
mental auf den Unterricht vorbereiteten. In einem riesigen, hohen
Klassenzimmer in einem alten Backsteingebäude in Erle, einem Ortsteil
von Gelsenkirchen. Schnurstracks ging er auf den Glasschrank am Ende
des Raumes zu, öffnete ihn flink mit einem Schraubenzieher, entnahm
ihm die orangefarbene „Brot-für-die-Welt“-Sammeldose, öffnete den
Deckel und griff grinsend hinein. Das Geld stopfte er sich in seine
Hosentasche. Er lächelte mich an, zwinkerte mit dem rechten Auge und
warf mir eine Kusshand zu. Schön war er nicht, doch er hatte was, der
schmale – fast schon dürre – hochaufgeschossene Dieter, der wegen zwei
Ehrenrunden mit seinen knapp 16 Jahren noch immer die 9. Klasse
besuchte. ...
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Klaus D. Krause
kam 1953 in Lünen nahe dem Lippeufers zur Welt. Obwohl sein
Geburtshaus wegen des sandigen Untergrunds eines alten Flussbetts
abgerissen werden musste, blieb er der Lippe und Lünen während seiner
Jugend treu. Erst das Journalistik-Studium verschlug ihn nach Dortmund,
wo er anschließend als freier Journalist für die Presse und den
WDR-Hörfunk arbeitete. 1984 kehrte er reumütig an seinen Fluss in die
Lippestadt Haltern zurück und heuerte dort als Redakteur bei den Ruhr
Nachrichten an. 1988 zog es ihn als Redaktionsleiter und später als
Chefreporter zur Dorstener Zeitung, wo er seitdem direkt an der Lippe
zu Hause ist. Nach dem Abschied aus der Redaktion denkt er für seinen
Lebensabend über einen Umzug nach Wesel nach – schließlich endet dort
auch der Lippelauf im Rhein. Nach seiner Wiedergeburt plant Krause dann
ein Comeback in Bad Lippspringe.
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Der Klümpken-Fielosof
Nein, besonders vorbildlich sah es nicht aus, das Idol meiner
Kinderzeit. Meist sah ich ja nur seine obere Hälfte. Verwuschelte,
widerspenstige Haare, die eine natürliche Abneigung gegen Friseursalons
zu haben schienen. Fast immer ein Grinsen im rundlichen, gutmütigen
Gesicht – so könnte Charlie Brown ausgesehen haben, wenn er je den
Peanuts-Comics entwachsen und zu einem gestandenen Mannsbild gereift
wäre. An der Kleidung meines Idols war stets die Jahreszeit zu
erkennen. Im Sommer einfarbige Oberhemden mit aufgekrempelten Ärmeln.
Im Winter dicke Pullover, deren Neigung zum Müffeln davon zeugte, dass
die Stippvisiten in Waschmaschinen so häufig waren wie die Besuche
anderer Leute in der Kirche: „Einmal zu Heiligabend – das reicht fürs
ganze Jahr!“ ...
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Anke Klapsing-Reich
erblickte 1961 in Dorsten das Licht der Welt. Ihr Abitur baute sie am
Gymnasium St. Ursula, bevor es sie zum Studium (Geschichte,
Germanistik, Politik) ins schöne Trier an die Mosel zog. Nach ihrem
Magisterabschluss kehrte sie in den „Pott“ zurück und volontierte bei
den Ruhr Nachrichten in Dortmund. Viele Jahre arbeitete sie als
Redakteurin in der Wochenend-Beilage „Das bunte Journal“. Heute lebt
die Mutter eines inzwischen erwachsenen Sohnes mit ihrer Familie wieder
in Dorsten und arbeitet als Lokalredakteurin bei der Dorstener
Zeitung/Ruhr Nachrichten. Als Autorin lokalhistorischer wie auch
unterhaltsamer Themen sind bislang schon mehrere Veröffentlichungen von
ihr erschienen.
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Die „Pippi“ vom Grünen Weg
Als der liebe Gott am 23. März 1961 seine Himmelswerkstatt aufschloss,
um sein schöpferisches Tageswerk zu verrichten, muss er etwas abgelenkt
gewesen sein: Vielleicht war es der Frühlingsanfang, der ihn so feminin
stimmte. Oder der Ärger darüber, dass ihm zwei Tage zuvor seine
männliche Schöpfung, die später auf den Namen Lothar Matthäus getauft
wurde, so gründlich missraten war. Jedenfalls wich der Allmächtige an
diesem Donnerstag kurzfristig von seinem ursprünglich vorgesehenen
Produktionsplan ab: Einem spontanen Impuls folgend, zog er anstelle des
georderten Ys in letzter Sekunde ein zweites X-Chromosom aus seinem
Baukasten und lieferte leicht verspätet, kurz nach 21 Uhr, die
Bestellung von Heinrich und Ingeburg Klapsing im
St.-Elisabeth-Krankenhaus zu Dorsten aus.
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Hubertus A. Janssen
Jahrgang 1964, aufgewachsen in Warendorf an der Ems, wurde nicht
Förster, sondern beendete sein Medizinstudium in Mainz. Seit 2010
dichtet er für die Funke-Mediengruppe und für den Landwirtschaftsverlag
Münster und für andere Zeitungen. Als Erfinder des
„landwirtschaftlichen Feuilletons“ ist er ein Vertreter eher kurzer
Kurztexte. Sein Gedichtband „Der Lurch hält durch“ wurde von Peter
Menne illustriert. „Kohle, Kappes, Koniferen“ heißt das vierte
Programm, mit dem er gemeinsam mit Jens Dirksen auf Tour geht. 2018
erschien das gleichnamige Hörbuch mit einer Live-Lesung, aufgenommen in
der Buchhandlung Platzer, Essen-Steele. Der Grenzgänger Janssen
arbeitet als Arzt genau da, wo Ruhrgebiet und Münsterland ineinander
übergehen. Er lebt mit Familie in Recklinghausen.
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Ruhrpotthelden
Schwer hebt Herbert ab vom Sofa,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Wirft sich auf sein Zündapp-Mofa,
das ihn in die Ferne zieht.
Braust in seinen Schrebergarten,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Sein Gemüse muss nicht warten,
Fachmann Herbert gießt und zieht.
Mit dem Hängerchen nach Hause,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Budenstopp für Tütenbrause,
hört es gern, wenn Brause zieht.
Leicht liegt Herbert auf dem Sofa,
irgendwo im Ruhrgebiet.
Und es schweigt sein altes Mofa,
das er stolz im Hofe sieht.
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Sabine Herrmann
Überzeugte Ruhri-Lokalpatriotin. Wollte nie weg. Abi gebaut, an der
Ruhr-Uni Germanistik und Geschichte gemacht, die Arbeitsplätze als
Journalistin vor der Haustür. Dem Hobby des Schreibens frönt sie immer
noch. Und das mit der heiteren Gelassenheit kann uns allen nicht
schaden. Ahoi!
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Kleine Onkelogie: Bänker mit Hirn und Herz
„Keep calm und carry on.“ Mein Onkelchen scheint das fleischgewordene
Subjekt dieses englischen Credos zu sein. Immer cool, immer ruhig und
obendrein ein ganz feines, leises, weises Lächeln um die Lippen herum.
Ein Ausbund an heiterer Gelassen- und großer Ausgeglichenheit. Und sein
Namensvetter Uwe befindet ihn als einen der charaktervollsten Menschen,
die er kennt. So einen hat frau doch gern als Vorbild – oder? ...
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Gerd Herholz
geboren 1952 in Duisburg. Schrieb und schreibt für den Rundfunk,
Zeitungen, Blogs (z. B. die Revierpassagen). Als Autor und Herausgeber
erschienen von ihm u. a. „auf- und abgesänge. gedichte“ (Sassafras) und
der Longseller „Die Musenkussmischmaschine. 132 Schreibspiele für
Schulen und Schreibwerkstätten“ (mit Bettina Mosler; Neue Deutsche
Schule). Zuletzt erschienen von ihm Prosatexte und Gedichte im Verlag
Henselowsky Boschmann und in der Literaturzeitschrift „offenes feld“
(Herford). Mehr bei Wikipedia unter „Gerd Herholz“.
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Vorbildstörung
Endlich sahen wir nach den Eltern auch den Jungen, Ludger, den
missratenen Prinzen, den an wen auch immer verlorenen Sohn. Das war er
also, „der Ludger“: grimassierend, mit ungelenken Bewegungen, den
Oberkörper nach vorne stoßend, ohne Blickkontakt, die nach oben
gerichteten Augen unentwegt flackernd, fast wie bei einem Blinden. Die
Haare hatte man ihm zu einem Pony in die Stirn gekämmt, Pullover und
Hose etwas zu eng, zu kurz. Der Junge wachse eben so schnell. Wie einen
kleinen Idioten ließ man Ludger aussehen, gerade so, als käme es bei
ihm auf nichts mehr an. Doch irgendetwas in seinen kurzen
Seitenblicken, seiner Körperhaltung mit dem aufmerksam schräg geneigten
Kopf, ganz Ohr, signalisierte, dass da drinnen in Ludger einer wohnte,
der minutiös alles wahrnahm und speicherte, hellwach. ...
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Markus Günther
geboren 1965 in Bottrop, hat Sachbücher, Essays und Prosa
veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Weiß“ im Verlag
Dörlemann in Zürich. Markus Günther lebt in Bad Godesberg.
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Es zählt nicht, was wir sagen, sondern wer wir sind.
Über Clemens Kraienhorst
Ein Kommunist als Vorbild? – Im Ernst? Man könnte die Frage noch weiter
zuspitzen: ein Kommunist als Vorbild für einen konservativen
Katholiken? Wie um alles in der Welt passt das zusammen? Die kürzeste
Antwort lautet: Es kommt eben drauf an, um welchen Kommunisten es geht
– und natürlich auch, um welchen Katholiken.
Der Kommunist, Clemens Kraienhorst, und der Katholik, also ich, teilen
zunächst einmal Herkunft und Heimat. Bottrop verbindet uns viel mehr,
als die 60 Jahre Altersunterschied uns trennen. Zeitgenossenschaft,
immerhin, haben wir noch gehabt: Als junger Mann konnte ich Kraienhorst
noch erleben und ihn, wenn auch nur recht flüchtig, kennenlernen.
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Jens E. Gelbhaar
Jahrgang 1965, Schifferkind, aufgewachsen in Voerde-Friedrichsfeld, hat
als Jugendlicher zu schreiben begonnen, schreibt Kurzprosa, Lyrik,
Drama, ist zudem Fotograf. Seit den neunziger Jahren verschiedene
Aktivitäten in der freien Theaterszene des Ruhrgebiets. Neben einigen
Semestern des Studiums (Germanistik, Theaterwissenschaft) an der
Ruhr-Universität Bochum eine Vielzahl unterschiedlicher
Berufstätigkeiten; heute Alltagsbetreuer von Senioren in Einrichtungen
in Recklinghausen und Essen. Der Autor lebt in Duisburg-Walsum und in
Voerde.
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Herr Jandrosch
Als 1945 amerikanische und britische Truppen während der „Operation
Plunder“ den Rhein überquerten, um ins Ruhrgebiet vorzustoßen,
durchquerten sie Dörfer wie Spellen und Löhnen und besetzten auch das
Rathaus der Landgemeinde Voerde. Über dessen Portal erkannten sie
stuckgeformte Szenen aus dem vorausgegangenen Weltkrieg: siegesgewiss
sich verabschiedende deutsche Soldaten, um sie bangende Frauen und
Kinder, stolze Söhne, die von ihren alten Vätern verabschiedet wurden,
all das linker Hand; rechts davon siegreiche Heimkehrer, ihren Liebsten
in die Arme fallend, jubelnd Hüte in die Lüfte werfend.
Viele Jahre, nachdem beide großen Kriege ganz anders ausgegangen waren,
als dort oben über der Tür prophezeit, war das Rathaus seiner
ursprünglichen Aufgabe entledigt. Man hatte ein Wohnheim für Leute mit
gleichfalls verschobener Identität daraus gemacht, für Alte, die man
nun Senioren nannte. Herr Jandrosch hatte sich hier unterbringen
lassen, im Gegensatz zu manch anderen, die an diesem Ort ihre letzten
Jahre zubrachten, freiwillig.
Herr Jandrosch war ein sehr großer, fröhlicher Mann mit strahlend
blauen, hellwachen Augen, 86 Jahre alt und kerngesund, sah man davon
ab, dass das Diabetesleiden ihm beide Füße geraubt hatte; knapp
unterhalb der Knie endeten seine Beine. ...
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Ulrike Geffert
Jahrgang 1956, ist gebürtige Bottroperin. Sie studierte in Bochum und
Münster Psychologie und Sozialmanagement. Unter dem Pseudonym U. Li
veröffentlichte sie Ruhrgebietskrimis und Kurzgeschichten in
Anthologien von Henselowsky Boschmann und des Autorenvereins ARIAL-10
e. V. Für die Zeitschrift „Tango Danza“ verfasste sie Artikel über
Tango-Events im Ruhrgebiet. Bei Henselowsky Boschmann ist ihre
Kurzgeschichte „Marika Kilius, meine Mutter und der Herzog von
Arenberg“ erschienen. Sie lebt mit ihrem Kater Pablonski in Bottrop.
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Adenauer! Oder vielleicht doch eher Che Guevara?
Ich habe mir eine ganze Vorbildersammlung zugelegt. Eine
Vorbildergalerie sozusagen. Jedes Exponat für sich anbetungswürdig, ein
Unikat – alle gemeinsam: die Tankstelle meiner Seele. Darunter auch ein
besonders skurriles Exemplar: Held, Zauberer und Kraftquelle zugleich.
Wir haben uns in Essen-Dellwig kennengelernt, weit hoch den Reuenberg
rauf, dann rechts, da, wo die Felder anfangen und die Armut aufhört.
Wie er über den Platz schritt: gelassen, raumgreifend.
Fremdes Terrain, jede Menge gaffendes Publikum, und er: die Ruhe
selbst. Die buchstäbliche Verkörperung von Autonomie, Mut,
Widerstandskraft und unbeirrbarem Glauben an sich selbst. Ja, ich gebe
es zu: Er imponierte mir vom ersten Moment an, und ich wusste: Mit dem
will ich ins Heu! ...
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Udo Feist
Journalist, Dortmund – kam an, kurz bevor Kennedy ging (John F.).
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„Die leben ja wie die Urchristen!“ – Wenn man sie lässt …
Es ist bereits dunkel, als am Abend des 22. August 2014, einem Freitag,
in Dortmund linksautonome Schüler, Auszubildende, Studenten und
Handwerker die Albertus-Magnus-Kirche besetzen. Sie wollen hier ein
Sozial- und Kulturzentrum einrichten, das „Avanti“-Zentrum. Das lange
leerstehende Gotteshaus in der Nordstadt wurde bereits entweiht. Die
Anlage ist marode, der Hof verwildert, die Fassade in die Häuserflucht
der Wohnstraße integriert. Pfarrer Ansgar Schocke von der Gemeinde, der
die Kirche gehört, ist hier der Hausherr. Mit einer Anzeige wegen
Hausfriedensbruchs hätte die Polizei Handhabe, die Kirche rasch zu
räumen. Doch Schocke zeigt die Besetzer nicht an. Udo Feist hat im
Januar 2019 mit ihm gesprochen. ...
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Jens Dirksen
gebürtiger und praktizierender Niederrheiner (Hanns Dieter Hüsch: „Weiß
nix, kann aber alles erklären.“), tätig in den Grenzen des Ruhrgebiets
von 1920. Einst Mitarbeiter der Schiller-Nationalausgabe, heute
Kulturchef der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ).
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Nachsatz zum Vorbild
Wer ein echtes Rundum-Vorbild für alle Wechselfälle des Lebens sucht,
wird in der wirklichen Welt kaum fündig. Das liegt daran, dass
Vorbilder vor allem Teil-Bilder sind. Sie entstehen durch selektive
Wahrnehmung, durch gezielte Ausblendung all dessen, was nicht passt zu
einem Vorbild, was nachteilhaft für seine Funktion wäre. Vorbilder sind
keine Bilder von der Wirklichkeit, sondern welche vom Ideal. Keine
Fotografien, sondern Reinzeichnungen. Der vorbildliche Mensch, der sich
ja selbst meist nicht wehren kann dagegen, Vorbild zu sein, wird zur
moralisch korrigierten Abstraktion dessen, was wir Realität nennen.
Aber es ist abstrahiert von etwas Konkretem, das einen Namen hat, das
macht seine Anziehungskraft aus. Das Vorbild ist die Möhre, der unser
moralischer Esel hinterhertrabt. Es ist ein Wert zum Anfassen, mit zwei
Wurzeln: die Wirklichkeit und deren Bereinigung vom Unwesentlichen. Ein
Ideal wird darin sicht- und greifbar, konkret und – scheinbar –
unmittelbar. Das Vorbild ist eine Art Heiligenbildchen der Humanität,
mehr Wunsch- als Abbild. Ein Vorbild muss nicht unbedingt real sein,
viel wichtiger ist der Schein, in dem es erstrahlt. Und vielleicht wird
das Vorbild sogar zur Fiktion, je mehr es sich um eine Abstraktion von
der Realität handelt. Zu einer nützlichen, einer notwendigen Fiktion,
die aber eben auch notwendigerweise eine Fiktion ist. Oder? ...
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Ludger Claßen
war 1985 bis 2016 Verleger des Klartext-Verlags. Er ist
Honorarprofessor an der Universität Duisburg-Essen und beschäftigt sich
mit der Geschichte und der Literaturgeschichte des Ruhrgebiets.
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Tammaria
Ich bin in einem ehemaligen Bergmannskotten aufgewachsen. Im Haus lebte
schon immer Tammaria. Sie gehörte zum Haus und lebte in gewisser Weise
in der Welt, wie sie beim Bau des Hauses bestanden hatte. Das Haus war
alt, klein, hatte eine sehr steile Treppe in die erste Etage und einen
Gewölbekeller mit einem Kohlenbunker, Kartoffelkisten, Obstvorräten,
riesigen Mengen an Einmachgläsern und einem großen Sauerkrautfass.
Tammaria war meine Großtante Maria, die ältere Schwester meiner
Großmutter. Alle nannten sie nur Tammaria. Tammaria war ledig und hatte
ihr gesamtes Leben in dem Haus verbracht – abgesehen von zwei Reisen
zum französischen Marienwallfahrtsort Lourdes. Von den Lourdes-Reisen
hatte sie einen Vorrat Weihwasser mitgebracht, mit dem sie sich in
besonders bedrohlichen Situationen – etwa bei einem starken Gewitter –
bekreuzigte. ...
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Monika Buschey
lebt und arbeitet in Bochum.
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Spiel ist alles. Auf der Spur von Else Lasker-Schüler
Ich weiß gar nicht mehr, wo ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Ich
glaube, im Berliner Künstlergetümmel kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Nicht, dass ich damals schon gelebt hätte. Aber es sind um die Zeit
Gedichte entstanden, die gewaltig beunruhigen können, noch Jahrzehnte
später. Vielleicht spürte ich der Schockwirkung von Gottfried Benn
nach, der die Erfahrungen, die er als Arzt am Seziertisch und in der
Krebsbaracke machte, zu Gedichten verarbeitet hat.
Eine Frau kommentierte seine poetischen Geständnisse: „Jeder seiner
Verse ein Leopardenbiss“, schreibt Else Lasker-Schüler, „ein
Wildtier-Sprung.“
Gut möglich, dass das die ersten Sätze waren, die ich von ihr gelesen
habe. Ihre Anerkennung für einen Kollegen weckte meine Anerkennung für
sie. Einmal auf die Spur gesetzt, konnte ich gar nicht mehr von ihr
lassen. Allein die Hyazinthenträume und der Goldstaub im Haar! Bei ihr
weit mehr als Dekor, das ganze Drum und Dran, die samtenen Westen und
die Pumphosen, die Ringe und die Armbänder. ...
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Karin Bucconi
literaturverliebter Mensch, leidenschaftliche Fotografin; 69 Jahre alt.
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Die Rockstars meines Lebens
Beim Nachdenken über Vorbilder habe ich es mir nicht leicht gemacht. Da
war niemand Besonderes, von dem ich spontan hätte sagen können, so wie
XY möchte ich sein, wenigstens annähernd. Ich verneige mich aber vor
Männern und Frauen, die Sterbende auf ihrem letzten Weg – zu Hause oder
im Hospiz – liebevoll begleiten. Ich habe allergrößten Respekt vor
Menschen, die selbstlos helfen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten,
denen es ein Bedürfnis ist, andere ein wenig glücklicher zu machen, und
ich ziehe den Hut vor denen, die konsequent gegen Rassismus kämpfen,
auch wenn sie Repressalien ausgesetzt sind. Jetzt, wo ich älter bin,
verlässt mich häufig der Mut, und ich ziehe die Sicherheit vor. ...
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Peter Bothe
geboren 1950 in Recklinghausen; Sozialpädagoge und Kulturmanager,
Museumsleiter i. R., Kurator von Kunstausstellungen. Veröffentlichungen
im SHZ-Verlag, Flensburg; „Graswurzelrevolution“, Grafische Werkstätten
Kassel; „Euterpe – Jahrbuch für Literatur III“, Husumer Druck- und
Verlagsgesellschaft; für 2019 geplant: „Neue Wahrheiten –
Geschichtliches, Sagen und Mythen neu interpretiert“;
„Ulrich-Grassnick-Lyrik-Anthologie“.
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Ein Torwart und ein 2:3 oder: Where are the champions?
Es ist der 18. September 1965. Am späten Vormittag, es war ein
nieseliger Samstag, und ich war gerade aus der Schule gekommen, da
stürmte mein Onkel Hans-Bernd, der nur „Seppl“ genannt wurde – warum,
weiß kein Mensch! – in unsere Wohnung: „Ey, Berni, du glaubset nich –
ich hab vonnem Kollegen noch Karten für Schalke gekricht!“ Berni war
mein Vater, und beide waren eingefleischte Schalke-Fans. „Pitter,
kannz mitkomm, wenne willz!“, wurde ich miteinbezogen. Klar wollte
ich mitkommen; aber nicht wegen Schalke, sondern weil das Derby gegen
Borussia Dortmund anstand. Außerdem war seit der Weltmeisterschaft in
Chile 1962 mein Fußballgott Hans Tilkowski, Keeper beim BVB.
Bei der Weltmeisterschaft 62 hatte er noch für Westfalia Herne
gespielt; und hätte er, nicht Wolfgang Fahrian, damals im Tor
gestanden, wir hätten das Spiel gegen Jugoslawien nicht verloren! ...
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Werner Bergmann
Jahrgang 1946, Studium der Geschichte und Mathematik; Promotion und
Habilitation in Mittelalterlicher Geschichte und Historischen
Hilfswissenschaften; akademische Lehrtätigkeit an der Ruhr-Universität
Bochum, TU Braunschweig, an den Universitäten Rostock, Hamburg und
Potsdam; apl. Professur, zahlreiche Publikationen und Quelleneditionen
zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte.
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Ik sall denken!
Er war mein Klassenlehrer auf der Knaben-Realschule in den ersten vier
Jahren; war einer von denen, die nach der Reifeprüfung in den Krieg
mussten und nach einem Ruckzuck-Studium in die Schule geschickt worden
waren. Er war allerdings keiner von den Geschädigten, die der Krieg
oder die Schüler oder beide zu skurrilen, gestörten Typen verbogen
hatte.
Stets in Anzug, mit einem weißen Hemd und Krawatte, unterrichtete er
Deutsch und Erdkunde und hielt die angeblich so disziplinlose Klasse
ohne erkennbare Mühe im Zaum. Hart, aber herzlich. Während seine
Kollegen herumschrien, Schlüsselbunde, nasse Schwämme und Ähnliches
als Wurfgeschosse einsetzten, zum Nachsitzen oder zu Strafarbeiten
verdonnerten oder wie einer im Winter die Fenster aufriss und posaunte:
„Ich werd euch Luft machen“, genügte ihm meist ein ernstes Wort. So man
etwas verbockt hatte, wurde man zitiert und zusammengefaltet mit kurzer
Ansage, die bei gröberem Unsinn auch schon mal mit einem leichten Klaps
auf den Hinterkopf eindringlicher gemacht wurde. Danach war die
Angelegenheit vergessen, und man ging zur Tagesordnung über.
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Werner Boschmann
ist im Ruhrgebiet geboren, aufgewachsen und lebt dort heute noch.
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Der Joseph, der Phil, die Frau Ebel und der Herr Schily, der Erich, der Wilfried und der Sahin
„Werner, mach ma den Joseph!“ Diese Aufforderung muss ich spätestens am
21. Februar 1957 zum ersten Mal gehört haben, denn an diesem Tag
feierte Oppa Theo seinen 70. Geburtstag, die Bude meiner Großeltern war
proppenvoll, alle Erwachsenen waren angeschickert. Ich weiß noch ganz
genau, wie Onkel Rudi mich auf den Wohnzimmertisch hievte und die
Korona tönte: „Werner, mach ma! Werner, mach ma den Joseph!“ – Und ich
machte:
„Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und
radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? Nun,
Volk steh auf und Sturm brich los!“ – Die Geburtstagsgesellschaft tat
beides. ...
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Hermann Beckfeld
wurde 1955 in Bottrop geboren, begann als Zeitungszusteller und ist
seit 19 Jahren Chefredakteur. „Beckfelds Briefe“ erscheinen seit April
2012 an jedem Samstag im Wochenendmagazin der Ruhr Nachrichten, der
Dorstener Zeitung, der Halterner Zeitung, der Münsterland Zeitung;
„Beckfelds Briefe – Ganz persönlich“ gibt es in drei Bänden als Buch
und als Hörbuch. Der Autor gewann acht Journalisten-Preise, darunter
den renommierten Theodor-Wolff-Preis.
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Lebenskünstler. Grenzgänger. Kumpel. Über Willi, der das Glück verschenkte
Willi ist tot. Eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Einfach so,
ohne Vorwarnung. Typisch Willi. Wie er lebte, so starb er. Er wollte
nicht, dass wir mitleiden, er wollte kein Mitleid. „Willi, wie geht
es?“ – „Es ist eine Lust, zu leben“, sagte er und ließ die Krücken über
seinem Kopf tanzen. Ansonsten brauchte er sie, um seinen geschundenen
Körper zu bewegen.
Eines seiner Reiter-Mädchen, mindestens so alt wie ich, und ich bin 63,
rief mich an. Sie weinte, konnte nicht sprechen, aber ich wusste
Bescheid. Eine Todesnachricht ohne Worte. Am Kneipentisch saßen meine
Doppelkopfbrüder, die Karten waren schon ausgeteilt. Willi hätte
gewollt, dass das Spiel weitergeht, dass ich an diesem Abend Pils und
Schnaps auf sein Wohl trinke. ...
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